Full text: Aus Tagen deutscher Not

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gebührenden Anteil zu nehmen. Am andern Morgen fanden wir 
den Schaffner, einen alten, ſchwachen Mann, erwürgt, ſein Geld⸗ 
käſtchen war erbrochen, der Weidgeſelle aber war verſchwunden. 
Man konnte ſeiner nicht habhaft werden. Der Mörder hieß Kratz— 
mann und ſah dem Burſchen, der ſich Dornbuſch nennt, ähnlich, 
wie aus den Augen geſchnitten!“ 
Seume ging die Geſchichte ſeltſam im Ropfe herum, aber er 
hatte nicht Seit, darüber nachzudenken, denn der ſchöne Morgen 
mit ſeinem blauen Himmel und den ſingenden Vögeln hatte es 
ihm angetan, ſo daß er alles vergaß und nur dachte, wie ſchön 
es doch im deutſchen Vaterlande wäre. 
Bald kam man an die Weſer und jetzt ging es wieder weiter 
auf den Bremer Böcken ſtromabwärts der alten Hanſaſtadt Bremen 
zu. Wie die Landſchaftsbilder wechſelten, ſo zogen auch vor 
Seumes Seele die Bilder der alten Geſchichte vorüber, die dieſe 
Ufer einſt geſehen hatten, und während er ſo auf der elenden 
Holzbank ſaß, redete er davon zu Wilhelm Beiter, der ihm ſtumm 
und aufmerkſam zuhörte. Aus fernem Weſten hatten die Berge 
des Teutoburger Waldes herübergeblaut, und er ſprach: 
„Dort drüben irgendwo haben unſere Vorfahren die römiſchen 
Legionen des Varus vernichtet. Wo iſt es hingekommen, das 
germaniſche Äraftgeſchlecht? Erbärmlich, verweichlicht, ſtumpf⸗ 
ſinnig ſind wir geworden, zerriſſener wie in den alten Tagen iſt 
unſer deutſches Volk. Wann wird endlich wieder ein Bermann 
aufſtehen unter uns und die deutſchen Stämme zur Eintracht 
bringen! Wann wird die Schmach enden, daß das Vaterland 
ſeine Kinder verkauft um ſchnödes Geld, damit die Fürſten damit 
praſſen! O du deutſche Shre, wo biſt du hingekommen mitſamt 
der deutſchen Kraft — Die Affen Frankreichs ſind wir geworden, 
franzöſiſche Sprache und franzöſiſcher Geiſt machen ſich breit 
an unſeren Fürſtenhöfen und freſſen an dem Mark des deutſchen 
Volkes. O Schande, Schande — und das wird nicht beſſer werden, 
ehe der Bogen nicht zum Springen geſpannt iſt — freilich, was 
ſollte noch Schlimmeres kommen können?“ 
Einige Seit ſaß Seume in trübem Sinnen, dann ſchaute er 
wieder hinaus in das LCand . . . Da kamen die Türme von Bremen 
in Sicht. 
„Auch ein Stück vom alten, kraftvollen Deutſchland, Wil— 
helm!“ ſagte er. „Was war das noch für eine Seit, da die
	        
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