WMit der großen Armee 1812 nach Moskau ε 9
bouren kamen, die neben ihren zerſchmetterten Trommeln lagen, trat
ſie laut klagend von einem zum andern, jeden unterſuchend, ob noch
. Leben in ihm wäre. Das war bei mehreren der Fall, auch bei dem Tam-
—9 — hourmajor. Während ſie bei dieſem kniete, um ihm einen ſtärkenden
Schluck einzuflößen, entſpann ſich das Gefecht auf einmal von neuem,
denn die Ruſſen rückten abermals an, um die Schanze wieder zu erobern.
Plötzlich ſtieß das Mädchen einen Schrei aus; eine Kugel hatte den
Daumen ihrer linken Hand getroffen und war in die Schulter des Ster-
benden gedrungen, deſſen Kopf ſie ſtützte. Sie ſank ohnmächtig um.
4 Ich wollte ſie aufheben, um ſie in Sicherheit zu bringen, mein zer-
H ſchoſſener Arm machte mir das aber unmöglich. Zum Glück kam gerade
ein Küraſſier, der ſein Pferd verloren hatte, an uns vorüber. Er ſah
das bewußtloſe Mädchen und mein vergebliches Bemühen, trat herzu,
nahm ohne weiteres die kleine Geſtalt wie ein Kind auf ſeine Arme und
ſchritt mit den Worten: „Nun ſchnell fort, hier wird's faul', eilends aus
dem immer heftiger werdenden Feuer heraus einem kleinen Gehölz
zu, in dem ſich der Verbandplaͤtz der Gardeartillerie befand. Erſt dort
erwachte Florencig aus ihrer Ohnmacht.
Ein Chirurg des kaiſerlichen Stabes, M. Larrey, welcher hier an—
weſend war, nahm ihr ſogleich den Daumen ab und mir die Kugel aus
dem Arm, worauf ich mich bald viel beſſer befand.“
Kurze Zeit darauf, als mein Landsmann, er hieß Dumont und war
Gefreiter bei den Voltigeuren des 61. Regiments, geendet hatte, brachen
wir wieder auf. Ich bat ihn, mich einmal in Moskau zu beſuchen, falls
wir dort länger bleiben ſollten, ich habe aber nie mehr etwas von ihm
geſehen oder gehört. Die Schlacht an der Moskwa am 7. September
1812 hatte mich demnach aller zwölf Gefährten aus meiner Vater-
ſtadt Condé beraubt, die mich in treuer Landsmannſchaft im Lager
vor Witebsk aufgeſucht hatten.
*
* —
Als wir gegen ein Uhr mittags aus dem großen Walde heraus—
traten, bemerkten wir in einer Entfernung vor uns eine Anhöhe. Nach
einer halben Stunde langten wir an derſelben an. Die vorderſten Ab-
teilungen, die ſchon die Kuppe erreicht hatten, machten uns lebhafte
Zeichen und ſchrien: „Moskau! Moskau!“ — Fa, in der Tat, da lag
ſie endlich vor uns, die ungeheure Stadt, in der wir hofften, uns von
allen Strapazen erholen zu können; denn wir von der Garde hatten ohne
nennenswerte Ruhepauſen über 5000 Kilometer zurückgelegt.
Es war ein ſchöner Sommertag, und in der Wittagsſonne glitzerten
die Kuppeln, Kirchtürme und vergoldeten Paläſte. Wohl hatte ich ſchon
6 Paris, Berlin, Warſchau, Wien und Madrid geſehen, aber keine dieſer
ö Hauptſtädte hatte in mir eine ähnliche Empfindung hervorgerufen wie
Moskau. Ich und alle andern ſtanden hier wie vor einem märchen⸗
haften Zauberbild.
In dieſem Augenblick waren alle Leiden, Gefahren, Mühſale und
Entbehrungen vergeſſen, nur der eine Gedanke beſeelte uns: „Endlich
am Ziel, endlich in Moskau, wo wir gute Winterquartiere beziehen