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ie Haſen pfiffen, die andern Thiere ſprangen auf und drängten ſich
um das Reh, um es zu beſchützen, das aber floh in raſchem Lauf davon.
Doch der Königsſohn hatte es ſchon erblickt und rief: „Wer mir das ſchöne
Thier tödtet, der ſoll ſterben, wer's aber fängt und mir lebend bringt,
ſoll ein Jägerhorn von lauterm Golde bekommen.“ Und ſogleich jagte der ö
ganze Troß, den jungen König an der Spitze, dem fliehenden Thiere nach.
as flog wie ein Pfeil aus dem Walde hinaus, den Felſen hinauf, N
dort ſtürmte es in die Zelle, wo der Greis noch betete, und verſteckte ſich ö
hinter ſeinem Kleide. Bald war auch der Königsſohn oben und da er
wohl ſah, wo ſich das Thier verſteckt, rief er dem Einſiedler zu, er ſolle
ihm das Thier herausgeben. Der aber beſchützte es mit ſeinen Armen
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und ſprach: „Wenn ich das thäte, ſo wäre es eine Sünde. Wer auf
meiner Schwelle Schutz ſucht, der findet ihn auch!“ — „So mußt Du ſter
ben!“ rief der Jüngling und erhob ſeinen Speer; doch in dem Greiſe er
wachte die alte Kampfluſt. Im Nu riß er ſein Schwert von der Wand
und ſprach: „So laß uns darum kämpfen!“
Der Kampf begann. Mit furchtbarer Kraft hieben Beide auf einander
los, aber zuletzt ermüdete die Kraft des Greiſes. Der Jüngling ſchlug
ihm das Schwert aus der Hand und zückte das ſeinige, um ihn zu tödten.
Doch das Reh ſah die Gefahr ſeines Beſchützers, ſprang zwiſchen
Beide und ward ſtatt des Alten vom Schwert des Königsſohns durchbohrt.
Da lag das zarte Thierlein im grünen Gras und das Blut ſtrömte mit
Macht aus der offenen Wunde; aber ſtatt an den Boden zu fließen, ver
breitete das rothe Blut ſich über den ganzen Leib des Thieres und um
hüllte es wie mit einem prächtigen Purpurmantel. Zugleich wuchs ſein
Geweih zu einem goldnen Krönlein zuſammen und endlich lag ſtatt des
Rehes ein wunderliebliches Königstöchterlein im Graſe, das hatte die Augen
geſchloſſen, als ſchlummere es.
Als der Königsſohn das ſchöne Frauenbild ſah, faßte er eine innige