e
Das ſtumme Uind.
1. Eine tief betrübte Mutter.
Frau von Grünau lebte auf ihrem herrlichen Landgute
in Einſamkeit. Eine ganze Reihe ſchmerzlicher
Unglücksfälle hatte ſie betroffen. Vor zwei Jahren hatte
ſie ihren Gemahl verloren, mit dem ſie nur ein Herz und
eine Seele geweſen; und voll unausſprechlichen Jammers
hatte ſie mit ihren drei Kinderchen die gel liebte Leiche zu
Grabe geleitet. Im vorigen Jahre wurden zwei ihrer
Kinder, zwei fröhliche, hoffnungsvolle Knaben, von den
Blattern hinweggerafft; und ſie benetzte die Blumen, womit
ſie die zwei kleinen Gräber bekränzt hatte, mit heißen
Thränen. Zu Anfang dieſes Jahres erhielt ſie die Nach⸗
richt, ihr einziger Bruder, ein tapferer Offizier, der ſich
im Felde befand, ſei den Tod fürs Vaterland geſtorben;
und dieſer neue Schmerz erneuerte und vermehrte ihre
tiefe Bekümmernis. Sie hatte keine Freude mehr auf
Erden, als ihr einziges noch lebendes Kind, Meline, ein
holdes Mädchen von etwa 8 bis 9 Jahren.
Eines Tages nun, da die gute Mutter, die ihre Tochter
ſelbſt unterrichtete, an ihrem Arbeitstiſchchen nächſt dem
Fenſter ſaß und Meline neben ihr ſtand, und, während die
Mutter nähte, aus dem Büchlein, das aufgeſchlagen auf
dem Tiſchchen lag, laut vorlas, trat ein Fremder in das
Zimmer. Er hielt eine Schrift in der Hand, machte eine
kurze Verbeugung und ſagte, daß er an den verſtorbenen
Herrn von Grünau eine kleine Schuldforderung habe, die