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Später legte Mariechen das Brod auf einen Tiſch nahe
am Fenſter, und das Täubchen holte es auch hier. Nach
einiger Zeit wurde das Futter auf einen Stuhl und dann
auf den Boden der Stube gelegt, und immer kam das
Täubchen herbei und pickte es auf.
Zuletzt war das Täubchen ſo zahm geworden, daß
es frei in die Stube hineinflog, ja, es ſetzte ſich ſogar
ſeiner kleinen Wohlthäterin beim Mittageſſen auf die
Schulter, pickte ihr das Brod aus der Hand und ließ ſich
ſogar von dem Mädchen greifen und ſtreicheln.
Ihr könnt denken, welche Freude das Mädchen an
dem Täubchen hatte. „Warum“ — fragte Mariechen
eines Tages den Vater — „warum ſind nicht alle Tauben
ſo zahm?“ „Weil nicht alle Kinder ſo freundlich mit
den Täubchen umgehen!“ ſagte der Vater.
1. Das Rothkehlchen.
Es war einmal ein kalter Winter. Der Schnee lag
hoch auf allen Feldern. Das Waſſer war zugefroren.
Nun konnten die Vöglein nirgends mehr Futter bekom⸗
men, und darum litten ſie argen Hunger. Unter den
Vögeln war ein Rothkehlchen. Das konnte es vor Hun—
ger nicht mehr aushalten und flog nach einem Bauern⸗
hauſe. In dem Hauſe wohnten brave Leute. Als das
Vöglein an das Fenſter kam, pickte es mit ſeinem Schnä—
belchen an eine Scheibe. Wenn es hätte ſprechen können,
dann hätte es geſagt: „Laßt mich doch herein! Gebt mir
doch etwas zu eſſen!“
Die Leute in der Stube ſahen das arme Thierchen
und hatten Mitleid mit ihm, und der Bauer öffnete das
Fenſter. Da flog das Vöglein in die Stube hinein und
ſetzte ſich auf den Tiſch. Die Kinder gaben ihm einige
Brodkrümchen, die es aufpickte, bis es ganz ſatt war.
Die Kinder hatten das Vöglein lieb und ließen es frei
umherfliegen. Es blieb den ganzen Winter in der Stube.
Nun kam der Frühling. Die Bäume wurden wie⸗
der grün. Die Sonne ſchien ſo lieblich. Die andern