34. Das Abendgebet.
Die Mutter hatte das kleine Minchen zu Bette
gebracht. Das Kind faltete ſeine Händchen und betete
ſein Nachtgebet, wie die Mutter es ihm gelehrt hatte.
Dann fielen ihm die Aeuglein zu, und es ſchlummerte
ein.
Emma war ſchon größer, ſie ſtand am Stuhle und
betete für ſich und für die Mutter und für den Vater,
daß Gott ſie beſchützen wolle in dieſer Nacht. Als ſie
damit fertig war, ſagte ſie: „Mutter, ſoll ich auch für
den Knaben beten, der mich heute nieder geworfen hat?“
— „Thue das, mein Kind,“ ſprach die Mutter, „bitte
Gott, daß er aus dem Knaben ein gutes Kind mache.“
— Und Emma betete für den Knaben, und als ſie ge—
betet hatte, fragte die Mutter: „Wünſcheſt du auch, daß
Gott den Knaben beſt rafe, weil er dich beleidigt hat?“
Emma. Nein Mutter, das wünſche ich nicht.
Mutter. Er hat dich aber doch beleidigt!
Emma. Er wird es wohl nicht mit Willen gethan
haben.
Mutter. Und wenn er es doch aus böſem Willen
gethan hätte, würdeſt du dann gern ſehen, daß Gott ihn
beſtrafte?
Emma. Nein, auch dann noch nicht.
Mutter. Und warum denn nicht?
Emma. Ich bete ja alle Tage: „Vergib uns unſere
n wie auch wir vergeben unſern Schuldigern.“
Lenn ich dem Knaben nun nicht vergebe, dann wird mir
Gott es auch nicht verzeihen, wenn ich unartig bin.
Mutter. Brav, mein Kind! aber ſage mir, wie
kommt es denn, daß ich dich ſtrafe, wenn du nicht artig
biſt. Müßte ich dir nicht auch Alles verzeihen ohne
Strafe?
Emm a. Nein, Mutter, wenn du mich ſtrafſt, dann
willſt du nur machen, daß ich kein böſes Kind werde, du
verzeihſt mir 926 doch, nicht wahr, Mutter?
Mutter. Gewiß, mein Kind, ich verzeihe dir Alles.