Full text: Kinderlust

es anfangen ſollte. Das Vöglein wieder fangen, ging 
nicht; denn es flog immer wieder fort, wenn Chriſtina 
nahe dabei war. „Wie, wenn jetzt die Mutter käme! 
Und ich habe ihr verſprochen, immer gehorſam zu ſein. 
Nun bin ich aber ungehorſam geweſen.“ So dachte das 
Mädchen und fing an zu weinen. 
Da ging die Thür auf und die Mutter kam herein. 
„Warum weinſt du, Chriſtina? fragte ſie. „Ach,“ ſagte 
das Kind, „ich bin dir ungehorſam geweſen.“ — „Das 
ſehe ich,“ ſagte die Mutter, „denn das Schächtelchen iſt 
offen und das ſchöne Vöglein, welches ich dir ſchenken 
wollte, fliegt in der Stube umher. Verdienſt du jetzt 
wohl, daß ich dir das Vöglein ſchenke?“ — Das Mäd— 
chen konnte vor Weinen nicht antworten, es fühlte wohl 
ſelbſt, daß es nicht werth war, das Vöglein zu erhalten. 
Die Mutter fing das Vöglein mit großer Mühe wieder, 
ſetzte es in das Schächtelchen und ſchickte es wieder zum 
Vogelhändler. 
Chriſtina beſſerte ſich aber, und nach einem halben 
Jahre bekam ſie das Kanarienvöglein wieder; denn in 
dieſer ganzen Zeit war ſie folgſam geweſen. 
7. Der zänkiſche Stieglitz. 
Amſel, Hänfling und Stieglitz ſaßen zuſammen in 
einem großen Käfige. Jeder hatte ſein Näpfchen voll 
Waſſer, jeder ſein Töpfchen mit Futter. Näpfchen und 
Töpfchen waren ſehr hübſch von Meſſing gemacht, das 
wie Gold glänzte. Die drei waren anfangs gute Freunde 
und erzählten ſich viel von ihrem Leben im Walde. Amſel 
fing gewöhnlich Morgens an, ihr Lied zu ſingen, dann 
ſang Hänfling, dann Stieglitz; oft ſangen ſie auch alle 
drei zuſammen, Amſel den Baß, Stieglitz die erſte Stimme 
und Hänfling die zweite Stimme. 
Nicht lange ging es ſo freundlich zu. Stieglitz nahm 
den beiden andern, wenn ſie ſchliefen, die ſchönſten Kör— 
ner weg; er wollte auch die Hälfte des Käfigs für ſich 
haben; er zankte auch mit der Amſel und ſagte: „Du
	        
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