Full text: Volksmärchen der Deutschen

der Ungerechtigkeit ſein wollte, ſagte er dem Richter den 
Dienſt auf und ward in den Kerker geworfen, aus welchem 
er jedoch durchs Schlüſſelloch leicht einen Ausgang fand. 
Dieſer erſte Verſuch, die Menſchen näher kennen zu lernen, 
konnte ihn unmöglich zur Alenne liebe erwärmen; er kehrte 
mit Verdruß auf ſeine Felſenzinne zurück, überſchaute von 
da die lachenden Gefilde und wunderte ſich, daß die Mutter 
Natur ihre Spenden an ſolche ſchlechten . verlieh. 
Demungeachtet wagte er noch eine Ausflucht, ſchlich unſicht 
bar herab ins Thal und lauſchte in Buſch und Hecken. Da 
ſtand vor ihm die Geſtalt eines Mädchens, lieblich anzu 
ſchauen. Rings um ſie hatten ſich ihre Geſpielinnen ins 
Gras gelagert an einem Waſſerfall, der ſeine Silberflut in 
ein kunſtloſes Becken goß, ſcherzten und koſeten mit ihrer 
Gebieterin in unſchuldsvoller Fröhlichkeit. Dieſer Anblick 
wirkte ſo wunderſam auf den lauſchenden Berggeiſt, daß er 
ſchier ſeiner geiſtigen Natur vergaß, ſich das Los der Sterb⸗ 
lichkeit wünſchte und nach den Töchtern der Menſchen ſah. 
Aber die Organe der Geiſter ſind ſo fein, daß ſie keinen 
feſten und bleibenden Eindruck annehmen; der Gnome fand, 
daß es ihm an Körper gebrach, das Bild der Schönen auf⸗ 
zufaſſen und feſtzuhalten. Deshalb verwandelte er ſich in 
einen ſchwarzen Kolkraben und ſchwang ſich auf einen hohen 
Eſchenbaum, des anmutsvollen Schauſpiels zu genießen. 
Doch dieſer Fund war nicht zum beſten ausgedacht; er ſah 
alles mit 1 und empfand als Rabe; ein Neſt 
Waldmäuſe hatte jetzt für ihn mehr Anz ziehendes als das 
junge Mädchen und ſeine Gefährtinnen. 
Dieſe Bemerkung war nicht ſobald gemacht, als der 
Fehler auch verbeſſert war; der Rabe flog ins Gebüſch und 
geſtaltete ſich in einen blühenden Jüngling um. 
Das ſchöne Mädchen war die Tochter des ſchleſiſchen 
Königs, der in der Gegend des Rieſengebirges damals herrſchte. 
Sie pflegte oft mit den Jungfrauen ihres Hofes in den 
Hainen und Büſchen des Gebirgs zu luſtwandeln, Blumen 
und duftende Kräuter zu ſammeln, oder für die Tafel ihres 
Vaters ein Körbchen Waldkirſchen oder Erdbeeren zu pflücken, 
und, wenn der Tag heiß war, ſich bei der Felſenquelle am 
Waſſerfalle zu erfriſchen. An dieſe Felſenquelle bannte fortan 
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