Der hirſch der ſich im Waſſer ſieht.
Ein Hirſch bewundert ſein prächtiges Geweih
Im Spiegel einer klaren Quelle.
„Wie prächtig! Auf derſelben Stelle
„Wo Königskronen ſtehn! Und wie ſo ſtolz, ſo frei!
„Auch iſt mein ganzer Leib vollkommen, nur allein
„Die Beine nicht, die ſollten ſtärker ſein!“
Und als er ſie beſieht, mit ernſtlichem Geſicht,
Hört' er im nahen Buſch' ein Jägerhorn erſchallen,
Sieht eine Jagd von dem Gebirge fallen,
Erſchrickt und flieht! Nun aber hilft ihm nicht
Das prächtige Geweih dem nahen Tod entfliehn,
Nicht ſein vollkomm'ner Leib, die Beine retten ihn!
Die reißen, wie ein Pfeil, die prächtige Geſtalt
Mit ſich durchs weite Feld und fliegen in den Wald!
Hier aber halten ihm im vogelſchnellen Lauf
An ſtarken Zweigen oft die vierzehn Enden auf.
Er reißt ſich los und flucht darauf,
Lobt ſeine Beine nun und lernet noch im Flieh'n
Das Nützliche dem Schönen vorzuziehen! ö
J. W. L. Gleim.
Heyneman n'ſche Buchdruckerei (F. Beyer) in Halle a. S.