Full text: Des Herzens Heimat

2189 — 
hafter Eile bemühte ſie ſich, es aufzureißen und zu leſen, als 
ihre kleine Ilſe hereinſtürmte und an der Rückſeite des hohen 
Seſſels, auf dem die Mama ſaß, in die Höhe kletternd, 
ohne weiteres ihren kleinen Arm um deren Hals legte. 
„Laß mich, Ilſe! Geh!“ rief Nina in ihrer Haſt, 
das Billet zu leſen, heftig den Arm der Kleinen zurück⸗ 
ſtoßend. Das Kind verlor ſeinen unſichern Halt und ſtürzte 
rücklings nieder, mit dem Kopf auf einen Marmortiſch 
ſchlagend, dann zu Boden! — 
Ein Aufſchrei „Mama!“ ſo vorwurfsvoll, mit ſo herz⸗ 
zerſchneidendem Weh, traf das Ohr der Mutter. Sie fuhr 
auf, das unſelige Billet entfiel achtlos ihren Händen, da 
lag das Kind mit gebrochenen Augen, ſtill und bleich, einige 
Blutstropfen auf den Lippen. 
Nina ſchrie laut! Sie riß an der Klingel, ſie warf 
ſich neben der Kleinen zu Boden, faßte ſie in die Arme 
und rief ſie zärtlich. 
„Zum Doktor! Schnell!“ rief ſie den herbeieilenden 
Dienſtboten entgegen, „bringt Waſſer, Eſſig, Leintücher!“ 
Die Sinne drohten ihr zu ſchwinden, aber ſie hielt ſich 
aufrecht und verſuchte das ohnmächtige Kind zu beleben. 
Es ſchien zu gelingen, und als nach wenigen Minuten der 
Arzt kam und der herbeigeholte Vater das Kind aus ihren 
Armen nehmen wollte, hielt ſie es krampfhaft feſt, um nach 
dem leiſeſten Lebenszeichen zu ſpähen. 
In der That gelang es, den zögernden Funken der 
Lebensflamme noch eine kurze Zeit feſtzuhalten, aber nicht 
ſo weit, daß der kleinen Ilſe die Beſinnung zurückgekehrt wäre. 
Kopf und Rückgrat waren durch den ſchweren Fall unheilbar 
verletzt und nach mehreren Stunden furchtbarer Spannung,
	        
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