Full text: Äsops Fabeln für die Jugend

Die Mutter und ihr Sohn. 
Ein Mutterſöhnchen, das noch die Schule beſuchte, ent— 
wendete ſeinen Mitſchülern Schriften, Bücher, kurz alles, 
weſſen er nur habhaft werden konnte, und brachte es ſeiner 
Mutter. Dieſe, weit entfernt, ihn wegen dieſes Verbrechens 
zu züchtigen oder auch nur zu warnen, ließ ihn ruhig gewähren 
und lobte ihn noch. „Seht,“ ſprach ſie zum Beiſpiel, „wie 
emſig mein Söhnchen iſt, wie es auf alle Kleinigkeiten achtet 
und alles zu Rate hält! Dir kann es nicht fehlen, du mußt 
reich werden!“ So zum Stehlen aufgemuntert, trieb er es 
fort; er konnte nichts liegen ſehen, alles nahm er mit. Als 
er nun groß geworden war, unterließ er es auch nicht, und 
wurde endlich über einem großen Diebſtahl ertappt und ver— 
urteilt, gehenkt zu werden. Auf dem Wege zum Hochgericht 
ſah er ſeine Mutter im Gefolge, ſchreiend, heulend, ver— 
zweifelnd. „Freund,“ ſagte er hierauf zum Scharfrichter, 
„gewährt mir meine letzte Bitte und laſſet mich mit meiner 
Mutter reden, ein paar Worte werden hinreichen, ſie zu 
tröſten.“ — „Wenn du ſonſt nichts verlangſt,“ antwortete 
dieſer, „ſo ſei dir deine letzte Bitte gewährt; rede mit deiner 
Mutter, aber mache es kurz!“ — Nun näherte er ſich ihr, 
wie wenn er ihr noch etwas heimlich zu ſagen hätte, und 
biß ihr das eine Ohr ab. Jetzt ſtürmten die Amſtehenden 
auf den Böſewicht ein, warfen ihm ſeine Ruchloſigkeit vor 
und bezeigten der Mutter ihr Mitleid. Er aber blieb ruhig 
und erklärte der Verſammlung, nach Kräften habe er ſich
	        
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