Full text: Lehren der Weisheit und Tugend

Die Kinder und der junge Vogel. 
Im Garten auf dem hohen Apfelbaume hat ein Vogel 
ſein Neſt gebaut mitten in das dichte gruͤne Laub hinein. Es 
iſt ſo verſteckt und geſchützt, daß kein Regentropfen hineinfallen 
kann, daß der heiße Strahl der Sonne es nicht berührt, daß 
auch die Räuberin, die Katze, es nicht findet. Aber die Kinder 
vom Hauſe haben es doch gefunden. 
Sie ſahen es, als die Vögel Halm auf Halm, Federchen 
auf Federchen, Moos auf Moos im Schnabel herbeitrugen und 
das Neſt baueten, ſie hörten die Töne, mit denen die aus den 
Eiern hervorgegangenen Jungen Speiſe forderten und freuten ſich 
inniglich des kleinen, kunſtvollen Baues und der Thierchen, die 
mit klugen Augen aus dem Neſte lugten und die Schnäbel auf— 
ſperrten. Sie ſahen mit Sehnſucht der Zeit entgegen, wo ſie 
flüͤgge ſein und hin und her flattern wuͤrden in dem gruͤnen 
Gezweig. 
Eines Morgens gingen ſie in den Garten, um das Neſt 
zu beſuchen d. h. von unten daſſelbe zu betrachten und ganz 
ſtill ſich deſſelben zu freuen. O weh! da lag ein junger Vogel 
auf der Erde und kreiſchte ganz entſetzlich. Er war aus dem 
Neſte gefallen, die Alten hüpften von Zweig zu Zweig auf dem 
Baume und wußten nicht, wie ſie das unartige Kind, das ſich 
zu weit aus dem Neſte hinausgeſtreckt hatte, wieder in das kleine 
warme Haus bringen ſollten; ſie ſtießen angſtvolle Töne aus 
und konnten ſich gar nicht beruhigen. 
Was thun wir? ſprach Karl, das älteſte der Kinder, zu 
ſeinen Geſchwiſtern. 
Wißt ihr, erwiederte Fritz, wir tragen das Vögelchen in 
das Haus, ſperren es in einen Käfig, machen ihm ein warmes 
Neſt, legen es hinein und füttern es auf. 
Nein! rief Marie aus, wie würde es dir gefallen, wenn 
man dich von deinen Eltern trennte? Kannſt du das Thierchen 
nicht wieder in ſein Neſt tragen, Karl? Du kletterſt ja ſo ge⸗ 
wandt und flink. 
Gewiß, ſprach Karl, das iſt das Beſte! Ich klettere bis 
auf jenen Zweig, dann reicht ihr mir das Thierchen zu und ich
	        
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