122
Als das Schweſterchen aufgeſchloſſen, ſah es vor ſich einen langen
dunkeln Gang. „Brüderchen,“ rief es, „lieb Brüderchen, biſt du darin?“
Aber es antwortete Niemand. Da faßte es ſich ein Herz und ging mit
ſeinem Laternchen immer fort, weit, weit hinein, und als es endlich um
eine Mauerecke bog, ſiehe, da lag ſein Brüderchen auf altem Stroh und
ſchlief gar feſt. Da küßte es daſſelbe auf den Mund recht herzlich und rief:
„Ach du mein liebes, liebes Brüderchen!“ Denn mehr konnte es vor Freud'
und Leid nicht ſprechen. Da erwachte das Brüderchen und fiel ſeinem
Schweſterchen um den Hals und Beide weinten vor lauter Luſt, daß ſie
ſich wieder ſahen.
Nun gingen ſie Beide den langen Gang zurück, bis ſie wieder in's
Freie kamen. Dort ging ein kühler Wind und beide Kinder waren ſo matt
vor Hunger und Durſt, daß ſie kaum weiter gehen konnten. Sie holten
alſo Reiſig, ſteckten es mit dem Lichtchen aus der Laterne an und er—
wärmten daran ihre Glieder. Das Schweſterchen aber holte den Wein
und das Brod aus dem Körbchen, und als ſie Beide davon gegeſſen und
getrunken, fühlten ſie ſich ſo wunderbar geſtärkt, daß ſie beſchloſſen, ſich
gleich wieder auf den Weg zu machen und den ſchauerlichen Wald zu ver
laſſen, um ſo bald als möglich zu ihren lieben Eltern heimzukommen.
Eben ſchickten ſie ſich auch dazu an und ſchon hatte das Schweſterchen
ſein Laternchen in die Hand genommen, da klang es wieder von weitem:
„Schuhu! Schuhu!“ Drauf kam der Ton immer näher und näher und es
dauerte nicht lange, ſo flog der gräuliche Uhu wieder über ihren Köpfen,
aber diesmal ſchoß er auf's Brüderchen los, als wollte er ihm grade in
die Augen fahren. Da hielt das Schweſterchen ihm raſch die Laterne
vor die Augen. Davon ward der Uhu ſo geblendet, daß er erſt zurück
prallte, darauf hin und her flatterte, endlich ganz matt und taumelnd
in das Reiſigfeuer fiel und zuletzt vor ihren Augen darin elendiglich
verbrannte.