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er ſeine Rettung zu danken hatte, führte es in das obere
Zimmer mit dem Erker, das ziemlich hübſch war, und ſagte:
Nun, liebe Kleine, ſetze dich hierher neben mich auf das
Kanapee, und ſage mir, wie du hierher in dieſes Haus ge—
kommen biſt. Denn es iſt unmöglich, daß du eine Tochter
dieſes ſchurkenhaften Wirtes, oder eine Enkelin dieſer ruch⸗—
loſen Wirtin ſein ſollteſt. Erzähle einmal, liebe Urſula.
Ich heiße nicht Urſula, ſagte das Kind; ich heiße
Meline. Ich ward meiner Mutter geraubt, und hierher
gebracht. Mein Vater war zwei Jahre zuvor geſtorben;
er nannte ſich Freiherr von Grünau.
Gott im Himmel, rief der Major, und ſchlug beide
Hände zuſammen, ſo biſt du die Tochter meiner Schweſter!
Ich bin dein Onkel! O, ſei mir tauſendmal gegrüßt,
liebſte Meline! Ich habe, als ich in den Krieg zog, dich
nur als Wiegenkind das erſte und das letzte Mal n
dich auf meinen Arm genommen und geſegnet. Du biſt
mir ein Engel, durch den Gott mich von einem hener
lichen Tode errettet! Der hocherfreute Onkel faltete die
Hände und blickte lange ſtillſchweigend zum Himmel. Auch
Meline betete und weinte. Nun, Gott ſei gelobt, daß er
mich dich finden ließ! ſagte der Major wiederholt. O
wie wird meine Schweſter, deine Mutter, ſich freuen! Er
ſchloß Meline in die Arme, und benetzte ihr Angeſicht
mit Thränen. Ihre Thränen floſſen ineinander!
Der Onkel fragte hierauf: Wie kam es denn, daß
du deiner Mutter geraubt wurdeſt, liebſte Meline?
Ach, ſagte Meline, ein fürchterl icher Mann trat in
unſer Zimmer, zeigte meiner Mutter eine Schrift, und
ſchmähte und fluchte ſchrecklich. Die Mutter hieß mich in
den Garten gehen. Ein anderer fürchterlicher Mann kam
in den Garten, ergriff mich, verſtopfte mir den Mund
mit ſeinem Taſchentuche, und ſchleppte mich in den nahen